Mit der Gruppengröße ist es nicht getan – wie schneller, sicherer & nachhaltiger Entscheidungen getroffen werden.
Amazon-Chef Jeff Bezos ist der reichste Mann der Welt. Eine seiner so genannten Erfolgsregeln wird immer wieder zitiert: Ein Meeting sollte nur so viele Teilnehmende haben, wie man mit zwei Pizzen satt bekommt. Doch vielleicht warten Sie noch ein paar Minuten bis Sie das nächste Meeting einberufen – und den Pizza-Service bestellen! Hier erfahren Sie, wie Sie die Gruppenintelligenz der Organisation aktivieren und gleichzeitig schneller zu Entscheidungen und tragfähigen Beschlüssen kommen.
Gruppenintelligenz wird auch als Weisheit der Vielen bezeichnet. Ich bin ein Fan davon, mit vielen Menschen nach neuen Ideen zu suchen. Gerade dann, wenn es um Innovationen, kreative Neuerungen oder gar Auflösung lang gepflegter Probleme geht. Dabei kann mir die Mischung gar nicht bunt und heterogen genug sein – mag ich mich nicht auf eine Zwei-Pizzen-Auswahl beschränken. 2 × 8 Gehirnhälften sind mir einfach nicht genug.
Die Weisheit der Vielen kommt von viel
Ich hörte einmal einen Konzern-Personalentwickler zitieren: ›Mitarbeitende sind das Kapital des Unternehmens. Man kann es arbeiten lassen oder hinauswerfen.‹ Was sich so grob anhört, hat einen sinnhaften Kern: Was wäre es für eine Verschwendung, das Wissen der Belegschaft nicht zu nutzen? Ich glaube, die Weisheit eines Unternehmens ist unermesslich groß. Gerade wenn die Komplexität der Herausforderungen steigt, sollte man dieses Potenzial nutzen. Darüber hinaus wächst auf diese Weise die Motivation zur Mitarbeit und für die Umsetzung beschlossener Maßnahmen.
Die optimale Gruppe ist klein – oder kleiner als gedacht
Bei meiner Arbeit in mittelständischen Unternehmen mische ich gerne Personen aus allen Ebenen und Bereichen – über horizontale und vertikale Begrenzungen hinweg. Mitunter kommen auch noch Teilnehmende von außen dazu. Wer kennt den Kunden besser als der Kunde selbst? Lieferanten bringen ebenfalls wertvolle Informationen ein. Deren Wissen und Perspektiven können so frühzeitig integriert werden.
Die vielen unterschiedlichen Personen in solchen Runden sind ein Abbild der Welt – und des Umfelds um das Thema herum. Ich glaube, es braucht viele unterschiedliche Sichtweisen, wenn ein Unternehmen in diesen schnelllebigen, dynamischen Zeiten seine Position behaupten möchte. Doch wie organisiert man dies?
Nehmen wir einmal an, die optimale Gruppengröße ist irgendwo zwischen den 8 Menschen, die Jeff Bezos mit zwei Pizzen bewirten möchte, und 5 Menschen die Conny Dethloff von der Otto Group in seinen Artikeln[2] mathematisch herleitet. Daraus resultieren Obergrenzen für Kreise und Gruppen. Zumindest dann, wenn jeder jeden verstehen und es gleichzeitig noch kreativ und dynamisch zugehen soll.
Diese beiden Argumente waren wohl auch für die Organisationsmethode Soziokratie[3] entscheidend, mit der der Weiterentwickler Gerard Endenburg das Unternehmen seiner Eltern reformierte, gar rettete. Die Idee ist ein Unternehmen ausgehend vom Leitungskreis in immer weitere Funktions- oder Rollenkreise zu unterteilen – und diese Kreise miteinander durch Stellvertretende zu verknüpfen.
Chancen und Nutzen digitaler Tools
Jetzt wird es vielleicht Unternehmensverantwortlichen etwas blümerant zumute, wenn sie sich eine soziokratische Organisationsform vorstellen – in denen die Belegschaft in Zirkeln aus 5 – 8 Personen aufgeteilt ist. Das summiert sich leicht auf Dutzende Kreise, wenn man wirklich alle einbeziehen wollte. Wie soll das wirtschaftlich und in angemessener Geschwindigkeit möglich sein?
Da helfen digitale Werkzeuge, wie etwa das österreichische System Acceptify[5], mit dem Ideen und Lösungsvorschläge per Internet gesammelt werden können. Alle Beteiligte können Fragen zu Vorschlägen stellen sowie Vor- und Nachteile ergänzen. Zu guter Letzt werden alle Vorschläge online bewertet. Der gravierende Vorteil für das Unternehmen ist, dass nicht alle gleichzeitig in einem Meeting am gleichen Ort anwesend sein müssen. Das senkt die Kosten enorm und fördert dennoch die Kreativität – weil jeder zu der Tageszeit aktiv werden kann, wenn er sich die Zeit dafür nehmen kann.
Das System ist so skalierbar konstruiert, dass es gar für Bürgerbefragungen genutzt werden kann – wie etwa in der österreichischen Gemeinde Munderfing[6]. Doch was hat Demokratie mit Unternehmertum zu tun? Der ein oder andere Wirtschaftskapitän preußischer Schule wittert hier vielleicht Basisdemokratie oder gar Anarchie. Ich mag hier nicht die psychologischen Grundlagen intrinsischer Motivation bemühen. Die Entscheidung ist auch so relativ einfach:
Wenn Ihr Unternehmen gut über die Runden kommt und selbst den heftigen Wogen der Digitalisierung trotzt, brauchen Sie sich wenig Gedanken zu machen. Der Lohn wäre mindestens die steigende Mitwirkungsmotivation der Belegschaft und im Idealfall ein Kontinuierlicher Verbesserungsprozess (Kontinuierlicher Verbesserungsprozess). Akuter Handlungsbedarf besteht eh, wann immer etwas besser laufen könnte. Dann sollte man an das kreative Potenzial in der Belegschaft gelangen und es für die Zukunftssicherung des Unternehmens nutzbar machen.
Wer sichere Schritte tun will, muss sie langsam tun[7]
So ließen sich die typischen Herausforderungen des Mittelstandes in Deutschland gleichzeitig als Chance nutzen – mit einer neuen Entscheidungskultur: Schneller, innovativer, internationaler und gleichzeitig jünger werden. Wer diese Herkulesaufgaben mit klassisch, hierarchischer Führung angehen möchte, wird an seine Grenzen stoßen – oder die der Generationen Y und Z.
Ein grundlegender Paradigmenwechsel bei Entscheidungen kann zuverlässig und sicher gelingen – auch der weite Weg von der klassischen Hierarchie zur gruppenintelligenten Organisation. Wichtig erscheint mir, dabei besonnen und achtsam und hochindividuell vorzugehen. Immerhin gilt es, viele Menschen mitzunehmen.
Ich schaue mir in Unternehmen erst einmal die vorhandene Besprechungs- und Entscheidungskultur genauer an:
- Welchen Anteil ihrer Arbeitszeit verbringen Führungspersonen in Besprechungen?
- Wie viele Personen nehmen an Meetings teil?
- Wie lange dauern Besprechungen?
- Wie viele Entscheidungen werden getroffen?
- Wie werden diese Entscheidungen dokumentiert, kommuniziert?
- Wie nachhaltig erfolgreich gelingt die Umsetzung der Entscheidungen?
Je mehr Struktur, desto schneller und mehr kreative Ergebnisse
Eine einfache Struktur hilft, den Unterschied zwischen klassischen Besprechungen und einer vitalen Entscheidungskultur zu erleben. Gehen Sie in einer Ihrer nächsten Besprechungen nur zum Test mit folgender Struktur vor:
- Das Thema oder Problem beschreiben und eine offene Fragestellung entwickeln, zu der Ideen gesammelt werden soll.
- Jeder sammelt für sich Ideen, die zur Lösung geeignet sind – mitunter besser schriftlich.
- Jeder präsentiert seine Ideen der übrigen Runde.
- Alle anderen stellen Verständnisfragen, um den Vorschlag später bewerten zu können.
- Der Ideeninhaber – und nur der – beantwortet die Fragen.
- Alle Ideen werden auf einer Pinnwand gesammelt und nummeriert.
- Ergänzen Sie die Ideensammlung um eine Passivoption, die da lautet: Wir lassen alles so weiterlaufen wie bisher.
- Falls es zur Ideensammlung weiteren Gesprächsbedarf gibt, wird auf keinen Fall diskutiert! Stattdessen darf jeder zu jeder Idee Vor- und Nachteile ergänzen.
- Abschließend erfolgt die Bewertung. Jede Idee wird von jedem für sich allein bewertet – nach einem Punktesystem von 0 – 10 Einwandspunkten. Diese Skala in Einerschritten variiert in einer Bandbreite der Bedeutungen von 0 = ›ist für mich in Ordnung oder finde ich OK und sinnvoll‹ über 5 = ›da habe ich Bedenken‹ bis zu 10 = ›da habe ich schwerwiegende Bedenken, Einwände oder gar Widerstand‹.
Dieses Verfahren nennt sich Systemisches Konsensieren[9].
Sie werden erleben, wie sehr eine Runde bei ersten Tests dieser Methode an alten Denk- und Verhaltensweisen hängt. Bei nahezu jedem Klienten muss ich Diskussionen rigoros unterbinden. Jeder hat die Möglichkeit bessere Vorschläge zu machen und zu guter Letzt jede einzelne Option zu bewerten. Wozu also die wertvolle Zeit vieler Menschen mit Diskussionen vergeuden?
Gruppen, die diese oben skizzierten 9 Stufen durchlaufen, gelangen innerhalb überraschend kurzer Zeit zu einem Meinungs- oder Stimmungsbild. Dieses spiegelt nicht nur das kreative Potenzial und die Erfolgsaussichten wider, sondern auch die Umsetzungsmotivation. Die meisten Teams schauen mich völlig überrascht an, wenn sie so schnell zu einem ersten Ergebnis gekommen sind.
Servieren Sie Torte statt Pizza
Ganz gleich, was Lehrbücher oder Experten vorgeben. Aus meiner Sicht geht es darum, einen individuellen, für das jeweilige Unternehmen passenden Pfad zu finden, zu mehr Gruppenintelligenz, zu mehr Entscheidungen und damit zu mehr Erfahrungen zu kommen. Ob Sie nun 6 oder 12 Personen in Ihren Entscheidungskreisen bewirten, ob Sie Teilnehmende aus allen horizontalen oder vertikalen Positionen einladen: Entscheidend ist aus meiner Sicht eine feste Struktur und ein vorhersagbarer Ablauf, mit der man schnell, kreativ und sicher zu tragfähigen Beschlüssen kommt.
Dabei braucht man nicht sofort die komplette Organisation auf den Kopf zu stellen. Beginnen Sie dort, wo Entscheidungen getroffen werden: in Führungsmeetings oder in Arbeitsgruppen, mit den oben skizzierten 9 Schritten. Ob die Innovationen aus der Produktion kommen oder von eingeladenen Kunden oder Lieferanten ins Unternehmen gebracht werden: Das ist Ihren zufriedeneren Kunden egal.
Fragen?
Haben Sie eine andere Meinung oder noch Fragen zu Meeting-Kultur, deren Integration sowie der Umsetzung der 9 Schritte oben? Bitte hinterlassen Sie hier Ihren Kommentar oder senden Sie mir eine Nachricht. Das Kontaktformular finden Sie hier …
Weiterführende Links
- Offene Online-Umfrage mit Acceptify ›In welchem Einsatzgebiet haben Online-Entscheidungssysteme die größte Zukunft?‹ (E‑Mail-Anmeldung notwendig) …
- Was Besprechungen kosten – der Meeting-Kosten-Rechner (Google-Docs-Tabelle zum Ausfüllen und Herunterladen) …
- Agile Meetings garantieren Effektivität in Besprechungen …
- 7 Tipps für eine bessere Innovatorenquote im Mittelstand …
- Interview ›Wieso Teams die Weisheit der Vielen nutzen sollten‹ …
- Interview ›Gemischte Gruppen treffen qualitativ bessere Entscheidungen‹ …
Quellen
Fotos
[1] Fotoquelle ›Pizzen‹: Creative Commons CC0 1.0 Universal Public Domain; Dedication via Pixabay …
[4] Fotoquelle: Eigener Screenshot;
[8] Fotoquelle: Eigener Screenshot.
Verweise
[2] Blog Reise des Verstehens von Conny Dethloff, Agile Center Otto Group:
[3] Wikipedia ›Soziokratie‹; https://de.wikipedia.org/wiki/Soziokratie
[5] Online-System für Konsensierungen Acceptify; www.acceptify.at;
[6] Das Munderfinger Bürgerbeteiligungsmodell; https://www.munderfing.at/aktuelles/das-munderfinger-buergerbeteiligungsmodell/
[7] Johann Wolfgang von Goethe, 1749 – 1832, Deutscher Dichter und Forscher
[9] Kurzüberblick Systemisches Konsensieren; http://www.sk-prinzip.eu/das-sk-prinzip/zusammenfassung/