Wie uns das neue Normal auf die Füße fiel
›Bei unseren Rundgängen entdecken wir immer wieder Reisende, die orientierungslos sind oder verzweifeln. Manche sitzen weinend auf den Fluren‹, sagt Bettina Klünemann im Interview mit dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel[1]. Die Seelsorgerin am größten deutschen Verkehrsflughafen beschreibt keinen Zustand während einer Krise, sondern den danach – im Sommer 2022. Ich denke, aus der aktuellen Situation an vielen deutschen Flughäfen können wir etwas lernen – über uns selbst.
Wer hat noch mal den Ausdruck ›Neue Normalität‹ geprägt? Und wie konnten wir alle insgeheim glauben oder hoffen, dass es jemals wieder werden würde, wie es einmal war? Und doch haben wir mit dem Ablegen der Maske wieder auf Normalbetrieb umgeschaltet. Da wehte ein frischer Wind, ein Hauch von Freiheit durch unseren Alltag und unseren Verstand, als die Maskenpflicht im öffentlichen Raum fiel. Es war, als wenn ein böser Traum durch das Aufwachen zerplatzte und wir nun wieder aufatmen konnten.
Hinweis: Wer es eilig hat, springe direkte zur Schlussfolgerung ➜ Ich, du oder wir – wer die Zukunft wirklich gestalten könnte weiter unten …
Urlaub planen – die Macht der Gewohnheit, Teil 1
So taten wir alle das, was wir so lange sehnlichst vermisst hatten: besuchten Restaurants und Kneipen, trafen uns mit Freunden und Verwandten, besuchten Konzerte und Museen – und planten unseren nächsten Urlaub.
Doch dieser Urlaub sollte anders sein, als im Jahr 2019 und 2020: Da waren wir wieder einmal im Bayerischen Wald wandern oder auf der Mecklenburgischen Seenplatte paddeln. Nein, diesmal sollte es wieder weiter weg gehen – mindestens nach Malle, ob auf Ballermann-Niveau oder doch mit dem Rennrad im Gepäck. Oder besser noch auf die Kanaren. Immerhin hat man die Schäden der Vulkanausbrüche auf La Palma noch nicht mit eigenen Augen beurteilt. Die Bevölkerung dort braucht ja bestimmt auch die Einnahmen aus dem Tourismus.
Kurz: Es gab gute Gründe, genau dort weiterzumachen, wo wir vor der Krise aufgehört hatten. Mindestens mal mit dem Urlaub.
Wirtschaftliche Schäden abwenden – die Macht der Gewohnheit, Teil 2
Die Rechnung hatten wir jedoch ohne den wirtschaftlich orientierten Teil der Welt gemacht. Der Welt, die auf ihre typische Weise reagiert hatte – jenseits unseres, durch die FFP2-Maske eingeschränkten Horizonts. In allen durch die Coronakrise besonders geplagten Branchen war rigoros Personal entlassen oder staatlich subventionierte Kurzarbeit eingeführt worden.
Das hatten wir auch mitbekommen, dass unser Lieblingskellner bei unserem Lieblingsitaliener verschwunden war. Auch an die vielen neuen Aushilfen und studentischen Hilfskräften hatten wir uns konziliant gewöhnt. Schließlich haben wir Verständnis und fühlten uns wegen unserer Post-Krisen-Solidarität doch umso mehr als Teil der gastronomischen Familia.
Doch viele Bedienstete kehrten nicht zurück. Vielleicht, weil sie endlich die Chance hatten, dem Mindestlohn-hire-fire-Prekariat zu entkommen und ein echtes Arbeitsverhältnis fanden, das ihrem Wert entsprach. Die anderen, weil sie dort, wo sie unterkamen, eher ihre Bestimmung fanden und in der Pflege mit echten Menschen zu tun hatten, statt nur mit ihrem Gepäck.
Kurz: Es ist nicht so einfach, eine Belegschaft erst zu dezimieren, um sie anschließend neu aufzubauen, wenn der Laden wieder läuft.
Regelnder Kraft des Marktes vertrauen – die Macht der Gewohnheit, Teil 3
Das neue Normal war also doch nicht mehr so normal, wie wir alle uns das gedacht hatten. Normal war höchstens, dass die gleichen Methoden angewendet werden sollten, wie zuvor. So wird eher klassisch reagiert – etwa auf den Engpass im Flugverkehr, der sich nun auch auf den Frachtbereich ausweitet[2]: >Dort versucht man mit den verfügbaren Ressourcen zu jonglieren, indem man Passagier- auch Frachtflüge etwa aus Spitzenzeiten in verkehrsärmere Zeiten verlegt oder gar ganz streicht.‹
Dabei wollte die Luftindustrie doch endlich wieder durchstarten nach der Krise und ihre Systemrelevanz beweisen – bevor sie sich doch noch ökologische oder wettbewerbliche Querschläger einfängt. Doch der steile Neustart ist zur Bauchlandung geworden. Nicht zuletzt, weil der Markt und die Wirtschaft den gleichen Mechanismen folgen, wie einstmals zuvor. Und so verknappt die Lufthansa die Tickets in Europa, indem sie sie vornehmlich zu Höchstpreisen anbietet[3].
Wie weit Politik und Staat denken – und lenken
So versucht dann jede der beteiligten Instanzen auf tradierte Verfahren zurückzugreifen. Worauf auch sonst, denn in der Krise war wenig Zeit zu lernen – und schon gar nichts Neues. Denn zunächst einmal musste die Krise gedeichselt werden. Die Learnings würde man sich ja hinterher anschauen können, in Ruhe.
Doch nach der Coronakrise folgte mindestens mal im Flugverkehr die Post-Coronakrise. Verwaltungen und Behörden tun das, was sie können. Sie fangen an, Regeln zu lockern, damit es doch weiter und mit den Flugzeugen wieder aufwärtsgehen kann: ›Um das Chaos im britischen Luftverkehr zu bewältigen, lockert die britische Regierung kurz vor der Hauptreisesaison die Vorschriften für die Start- und Landerechte an den Flughäfen.<[4]
Anders in Deutschland. Dort steigen die Wettbewerbshüter für die Verbraucher in den Ring: ›Angesichts Tausender stornierter Flüge und der schleppenden Rückerstattung der Ticketkosten durch viele Airlines zieht das Bundesverbraucherschutzministerium in Betracht, die Vorkasse bei Flugbuchungen zu überprüfen.‹[5]
Kurz: Verwaltungen und Behörden tun, was sie können, um die Post-Coronakrise zu bewältigen. Sie verwalten das, was es zu verwalten gibt – auch, wenn es die nächste Krisensituation ist.
Ich, du oder wir – wer die Zukunft wirklich gestalten könnte
Vielleicht wird schon deutlich, was ich für das eigentliche Thema halte: Solange wir alle weitermachen wie bisher, wird es auch weiter so chaotisch bleiben. Es gilt, langsamer und bewusster zu werden.
Sonst bleibt nur eins beim Alten. Dann bleibt es dabei: Nach der Krise ist vor der Krise.
Was ich damit meine: Das Chaos im Flugverkehr wäre eventuell ausgeblieben, wenn zumindest die Hälfte aller Urlaubsreisenden im Jahr 2022 einen ähnlichen Urlaub gemacht hätten wie in den beiden Jahren zuvor.
Warum haben wir das nicht? Weil wir unbewusst wieder in alte, automatische Verhaltensweisen gerutscht sind und das getan haben, was wir vorher getan hatten. Oder vielleicht, weil wir zwei so entbehrungsreiche Jahre hinter uns hatten, dass wir es verdient hatten – uns schuldig waren.
Was steckt dahinter? Haben wir wirklich unsere rudimentären, vom inneren Kind gesteuerten Bedürfnisse immer noch nicht im Griff? Nach dem Motto: Ich will aber jetzt ein Eis. Oder sind wir eine Gesellschaft, Generation oder Was-weiß-ich von Wohlstandsegoisten? Mit dem Anspruch: Ich zuerst, vor allen andern.
Doch haltet inne, bevor ihr jetzt auf andere zeigt – oder bevor ihr Gründe hervorkramt, warum ich im Unrecht bin und man das doch auch alles ganz anders sehen könnte. Merkt ihr, wie ein Teil in euch sich vehement dagegen sträubt, damit nichts zu tun haben möchte? Dennoch sind wir immer wieder hier und da Teil der breiten Masse und damit mitverantwortlich. Da hilft auch kein: Die andern machen es doch auch.
#GemeinsamGehtDasBesser
Nachhaltigen Veränderung können immer nur bei mir selbst beginnen. Deswegen möge dieser Beitrag eher als öffentliches Reflektieren verstanden werden, denn als Finger-Pointing. Gerade mir fällt es nicht leicht, alte Gewohnheiten loszuwerden.
Doch was hilft es, wenn ich die Weisheit sprichwörtlich mit großem Werkzeug gelöffelt habe – zu wissen glaube, was getan werden müsste, damit die Warteschlangen an den Flughäfen kürzer werden – oder wer schuld ist, dass es ist, wie es ist? Das hilft nicht weiter. Warum?
Ich stehe nicht in der Warteschlange – ich bin die Warteschlange.
Wir werden die nächste Stufe von Selbstbewusstsein und damit Krisenkompetenz erreichen, wenn wir uns und unserer selbst bewusst werden: Wir sind nicht das Opfer einer Krise, sondern Auslöser oder Problem – mindestens ein Teil davon.
Jetzt denken einige vielleicht: Was soll ich allein schon tun. Wunderbar, das ist das Argument, dass es gemeinsam besser geht.
Die, die jetzt wissen, was andere tun sollten: im Prinzip ja. Nur fange selbst damit an, das umzusetzen, was du von anderen verlangen würdest. Erfahre selbst, wie schwer es ist und verteile deine Erfahrungen authentisch, nicht beckmesserisch. So kommt ein wirkliches Wir und eine gemeinschaftliche Bewegung zum Besseren zustande.
Kurz: Eigentlich könnte man all dies auf den kategorischen Imperativ von Immanuel Kant herunterbrechen: ›Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.‹
Also stell dir vor, es wäre ein Gesetz und damit die Pflicht der Bevölkerung, dass jeder pro Jahr mehr als 130 Liter Wasser[6] verbrauchte, regelmäßig außerhalb Europa Urlaub[7] machte und ein eigenes Fahrzeug führe, das mehr als 3,6 Liter Diesel oder 4,1 Liter Benzin pro 100 Kilometer[8] verbraucht.
Was hätten wir alle, was hättest du dann auf Dauer zu verlieren? Also los!
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Weitere Fotoquellen
Beitragsbild
alevision.co via Unsplash
Porträt Tom Müller
- Foto: Moritz Kaschel, Wuppertal
- Lokalität: Zur Goldenen Idee, New Work Lab, Düsseldorf
Quellenangaben
[1] https://www.spiegel.de/reise/deutschland/flughafen-seelsorgerin-in-frankfurt-manche-reisende-sitzen-weinend-auf-den-fluren-a-9edcf6d8-84b6-433d-aede-71cfd9e7fad5
[2] https://www.spiegel.de/wirtschaft/flughafen-frankfurt-personalmangel-wirkt-sich-auch-auf-frachtverkehr-aus-a-242b98f2-df9f-42f7-a6dc-f074617d8bec
[3] https://www.msn.com/de-de/finanzen/top-stories/lufthansa-verknappt-tickets-e2-80 – 93-und-verkauft-europafl-c3-bcge-zu-h-c3-b6chstpreisen/ar-AAZ720A
[4] https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/british-airways-und-co-britische-regierung-lockert-fuer-maschinen-die-regeln-fuer-landerechte-a-4add4fef-a71a-4283-a023-036369c7174e
[5] https://www.spiegel.de/wirtschaft/abgesagte-fluege-verbraucherschutzministerium-stellt-vorkasse-infrage-a-985991b1-344f-4369-acab-0cb897173c42
[6] https://www.test-wasser.de/deutschland-wasserverbrauch
[7] http://www.tourismusanalyse.de/zahlen/daten/statistik/tourismus-urlaub-reisen/2022/fernreiseziele-2021
[8] https://www.auto-motor-und-sport.de/verkehr/co2-limits-95-gramm-flottenverbrauch-strafe-eu-vw-daimler/