Wild gestikulierend rennt ein Mann hin und her am westlichen Ufer des heutigen Rheins vor etwas mehr als viertausend Jahren. Auf einem mehr als zwölf Meter langen Einbaum rudern fünf Menschen angsterfüllt, um den Mann und damit das rettende gegenüberliegende Ufer zu erreichen. Sie sind mit ihren Mammutzähnen auf dem Weg, aus einem Nebenfluss kommend zu einem Handelsplatz jenseits des großen Stroms. Nun kämpfen sie leidenschaftlich gegen die träge und umso mächtigere Strömung an, um nicht in den flussabwärts liegenden Stromschnellen mitgerissen zu werden. Doch so sehr sie sich auch anstrengen, je panischer sie paddeln: Das urzeitliche Handelsschiff treibt schneller werdend weiter vom Kurs ab, wird schließlich mitgerissen, kentert und bleibt einige Kilometer weiter kieloben im Uferdickicht hängen. Alles ist verloren.
Jedem ist mehr oder weniger klar, dass mehr vom gleichen nicht unbedingt hilft in Gefahren- oder Notfallsituationen. Dennoch geschieht es häufig, dass noch mehr gespart, noch mehr Preisnachlass gegeben oder immer intensiver und länger gearbeitet wird. Frei nach dem Motto: Viel hilft viel. Doch mehr vom gleichen ist nicht unbedingt ein Erfolgsrezept – auch nicht, bei geänderten Rahmenbedingungen den eingeschlagenen Kurs stoisch beizubehalten. Zumindest dann nicht, wenn ebendies zur angespannten Situation geführt hat. Warum ist das so? Warum weichen wir ungern von etablierten Pfaden ab? Die Ursache ist nur zu menschlich.
Schwärme gleichartiger Gehirne
Unser Gehirn ist ein energiehungriges Organ. Sein Gewicht macht bei Erwachsenen etwa 2 % der Körpermasse aus, verbraucht jedoch etwa 20 % des Grundumsatzes – beim Neugeborenen sogar 50 %. Deswegen liebt es den Automatikmodus. Erlerntes, geübtes, erprobtes und somit integriertes Wissen oder Verhalten wird viel leichter und mit geringerem Aufwand aus den solide verschalteten Synapsen wieder abgerufen. Am deutlichsten wird dies bei Bewegungsabläufen.
Versuchen Sie doch einmal, die Arme zu verschränken und wechseln Sie dann die Lage, dass das andere Handgelenk oben zu liegen käme. Diese Übung ist für die meisten ein aufwendiger Akt. Zudem fühlt sich die andere Variante komisch, ungewohnt und irgendwie falsch an. Im übertragenen Sinne bedarf eine Verhaltensänderung zunächst eines höheren Aufwands und macht obendrein noch unsicher. Im unbekannten Terrain fehlt das Gefühl der Sicherheit.
Diese Beharrungskraft multipliziert sich, wenn dieselben Gehirne in gleicher Konstellation und in identisch wiederkehrenden Zusammensetzungen oder Ritualen zusammenkommen, um bessere Ergebnisse zu erzielen und die notwendigen Entscheidungen zu treffen. Ein Schwarm ist eine Ansammlung gleichartiger Individuen. Auch zigtausend Sardinen sind immer noch Sardinen –selbst wenn sie im Schwarm von Weitem betrachtet imposanter und größer erscheinen. Wann immer sich Nudeln in der Suppe über die Welt außerhalb des Tellerrandes unterhalten, wird diese immer wie eine Nudelsuppe aussehen.
Gruppenintelligenz ist mehr als Schwarmintelligenz
Deswegen sehe ich einen großen Unterschied zwischen Schwarm- und Gruppenintelligenz. Eine Gruppe besteht – mehr noch als ein Team – aus unterschiedlichen Individuen mit vielschichtigen individuellen Erfahrungen und variantenreichen verschiedenartigen Erfahrungshintergründen. Also sollte man bei einer Aufgaben- oder Fragestellung auch einmal andere mit einbeziehen als die üblichen Verdächtigen.
Dies soll kein Plädoyer gegen Fachwissen oder Expertentum sein – wohl aber gegen sortenreine Gefüge. Die Weisheit der Vielen ist eben mehr als nur viel Wissen. Selbst wenn eine reine Expertenrunde unterschiedliche Szenarien ausgearbeitet hat, sollten sie sich meiner Meinung nach durch ein breites gruppenintelligentes Meinungsbild bei der Vorhersage von Wahrscheinlichkeiten unterstützen lassen.
In meinen Mandaten sorge ich für andere Zusammensetzungen, mische Teams zu Gruppen – oft über Bereichsgrenzen und Hierarchieebenen hinweg. Wenn das nicht zu den gewünschten Ergebnissen führt, besteht die Chance, die Kreise der einbezogenen Menschen zu vergrößern. Warum sollte man nicht auch Kunden und Lieferanten befragen? Im Katastrophenfall wird man dies auch tun müssen – nur ist’s dann oft zu spät.
Insolvenz, Sanierung, Transformation und Wandel
Die Zeichen stehen gut, mit Gruppenintelligenz aus der Krise zu kommen – selbst, wenn der schlimmste Fall bereits eingetreten ist. In der deutschen Insolvenz- und Sanierungspraxis hat sich der Fokus von der reinen Gläubigerbefriedigung hin zur Fortführung gewandelt – im besten Fall sogar eigen verwaltet unter Aufsicht eines Sachwalters.
Besser könnte der Zeitpunkt kaum sein, hier auch vom bisherigen Verhalten abzuweichen und sich neuer Verfahren und Methoden zu bedienen. Eine Sanierung oder Insolvenz wird ohnehin nur zu einem guten Ende kommen, wenn alle Interessengruppen frühzeitig, konsequent und transparent mit einbezogen werden. Und schon könnte Gruppenintelligenz entstehen und genutzt werden. Denn die Kunst ist nun, anders an die Sache heranzugehen und dennoch erfolgreich.
Sie brauchen übrigens nicht zu warten, bis der Sanierungsfall eingetreten ist. Gruppenintelligenz lässt sich auch vorher nutzbringend einsetzen. Etwa zur Behebung von Problemen und Herausforderungen, zur Gewinnung neuer Kunden- oder Marktsegmente, für die Entwicklung von Produkten oder Strategien.
Neue Ideen, neue Methoden, neue Fähigkeiten, neue Chancen
Erfolgreich vorangehen wird es vermutlich dann, wenn auch neue Ideen gedacht, hier und da neue Methoden angewendet und einige neue Fähigkeiten etabliert werden. Nur gehört die Moderation solcher Turnaround-Prozesse nicht unbedingt zur Ausbildungs- und Kernkompetenz der Sachwalter, selbst wenn diese mediatorische Qualifikation vorweisen können. Lassen Sie sich zusätzlich unterstützen von Spezialisten, die die Weisheit der Vielen, die Gruppenintelligenz zu aktivieren verstehen. Dann können alle anderen Beteiligten und sie selbst sich auf ihre ureigene Rolle und Interessen konzentrieren.
Die untergegangenen Waren und der Einbaum hätten gerettet werden können, hätten sie nur den Lotsen am anderen Ufer hören können. Er hätte vorgeschlagen, das Boot ein paar hundert Meter stromaufwärts zu tragen und es dort, an einer seichteren Stelle ins Wasser zu setzen. Das wäre zwar einiges an Mehraufwand gewesen, doch wären alle heil und unversehrt der Gefahr des Untergangs entkommen.
Turnaround‑, Sanierungs- und Insolvenzprozesse gehören gut und professionell moderiert. Die Vorteile liegen auf der Hand: Es geht kreativer, sicherer, zügiger voran; es entstehen weniger hinderlicher Konflikte und alle beteiligten Personen oder Bereiche können sich auf ihre eigene Rolle konzentrieren.
Fragen, Kontakt, Unterstützung
Haben Sie Fragen, benötigen Sie Begleitung in Unternehmen in einer schwierigen Situation oder in Insolvenz? Benötigen Sie schnelle Fortschritte und einen großen Zusammenhalt aller beteiligten Personen? Schicken Sie mir eine Nachricht – ob als betroffene oder verantwortliche Person in Unternehmen oder als Insolvenzverwalterin oder ‑verwalter – hier …
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Dieser Beitrag erschien am 30. Mai 2022 zuerst im …
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