Gruppenintelligenz ist mehr als Schwarmintelligenz

Entscheiden kön­nen ist Krisenkompetenz – Teil 2

Wieso soll die Weisheit der Vielen mehr sein als viel Wissen? ➜ Teil 1 die­ser Artikelserie erläu­ter­te, wie essen­zi­ell Entscheidungen gera­de in schwieri­gen Zeiten sind – und die­se dann auch kon­se­quent umzu­set­zen. Doch wie kann dies kon­kret gelin­gen? Dieser Teil wid­met sich einer Wirkkraft, der ich ver­traue, wenn es um kom­ple­xe Themen geht: Gruppenintelligenz.

Gruppenintelligenz wird oft be­zeichnet als die Weisheit der Vielen. Doch zunächst möch­te ich hier häu­fi­ge Verwechslung klä­ren: Gruppenintelligenz ist nicht gleich Schwarmintelligenz. Schwärme sind Ansammlungen gleich­ar­ti­ger Individuen, etwa Gänse, Schafe, Sardinen. Diese wach­sen zwar im Schwarm über sich hin­aus, doch unter­schei­den wir uns als Mensch wesent­lich von die­sen Lebewesen – durch Fähigkeiten unse­res Gehirns und, wie wir die­se nutzen.

Suppennudeln haben kei­ne Gruppenintelligenz

Kurz und deut­lich: Wenn sich Nu­deln in der Suppe über die Welt jen­seits des Tellerrandes unter­hal­ten, wird die­se immer aus­se­hen wie eine Nudelsuppe. Ganz anders wäre dies in einer Gruppe von Menschen, die ihre Fantasie nut­zen. Denken Sie nur an Science-Fiction-Literatur.

Wenn wir die gesam­te Mensch­heit betrach­ten, sind wir uns wohl einig: Rein äußer­lich sind wir schon sehr unter­schied­lich. Nun betrach­ten wir noch die Vielschichtigkeit unter­schied­li­cher erwor­be­ner Fä­higkeiten und gene­ti­schen Eigen­schaften. Da wird schnell klar, was die Intelligenz einer Menschen­gruppe von der eines Tierschwarms unter­schei­det: Sie birgt eine unfass­bar vari­an­ten­rei­che Fülle indi­vidueller, über Generationen hin­weg gesam­mel­ter Informationen. Das ist die Weisheit, die ich mei­ne. Sie ist wesent­lich mehr ist als nur eine gro­ße Menge Wissen.

Kreativität ist ein zar­tes Pflänzchen

Die Kunst ist, die­se Weisheit der Vielen zu nut­zen – gera­de, wenn es um kompli­zierte oder kom­ple­xe Herausforderungen geht. Die wich­ti­gen Zutaten sind zwei mensch­li­chen Fähig­keiten: Kreativität und Fantasie. Doch die­se Zauber­kräfte sind sen­si­bel, flüch­tig und las­sen sich leicht ver­scheu­chen. Deswegen ist mir die krea­ti­ve Phase der Ideensammlung ein fast hei­li­ges Ritual. Wieso?

Sie ken­nen das viel­leicht aus Meetings: Jemand äußert eine Idee und alle ande­ren stür­zen sich mit ihren Bedenken auf ihn. Andere glau­ben zu wis­sen, war­um die­ses und jenes nicht funk­tio­nie­ren kann. Nach ein paar wei­te­ren Vorschlägen und ähn­li­chen Reaktionen kommt nicht mehr viel an neu­en Ideen hin­zu. Das liegt dar­an, dass die Gehirne inzwi­schen umge­schal­tet haben – vom Kreativ- auf den Richtig-falsch-Modus.

Deswegen gilt für die krea­ti­ven Ideensammlungen: Zunächst wer­den aus­schließ­lich Vorschläge ge­sammelt, jedoch auf kei­nen Fall be­wertet und dis­ku­tiert. Jede Idee ist wich­tig – jede auch noch so schrä­ge, unvoll­stän­di­ge oder unsin­ni­ge. Jede Idee ist hilf­reich. Sei es nur, jemand ande­ren auf eine wei­te­re, viel­leicht bes­se­re Idee zu brin­gen. Frei nach dem Motto: Wenn nicht so, wie dann?

Tabelle 1: Meinungsbild, 26 Optionen bewer­tet von 24 Menschen

Gruppenintelligenz zur Entscheidungsvorbereitung

Im betrieb­li­chen Alltag kann man sich als Führungsperson die­se Weisheit der Vielen zunut­ze ma­chen. Was hin­dert Sie dar­an, betei­ligte und betrof­fe­ne Menschen nach Ideen zu befra­gen? Sie könn­ten sogar noch einen Schritt weiter­gehen und die Gruppenintelligenz dazu befra­gen, wel­che Ideen sie für die geeig­nets­ten hält. Ein sol­ches Meinungsbild ist eine wert­vol­le Grundlage, um wich­ti­ge Entschei­dungen zu tref­fen. Doch dazu mehr Details im nächs­ten Beitrag die­ser Artikelserie.

Die Tabelle 1 oben zeigt ein Mei­nungsbild einer Vereinssitzung: 24 Menschen hat­ten 26 Optionen ge­sammelt und bewer­tet. Hätte man Ideen bereits beim Sammeln disku­tiert, wäre man wohl kaum auf eine der­art hohe Anzahl gekom­men. In die­sem Meinungsbild wird schnell klar und deut­lich, wor­über es sich zu dis­ku­tie­ren lohnt – oder ob über­haupt eine Diskussion not­wen­dig ist. Das Beispiel oben zeigt, dass zu den Vorschlägen auf den obers­ten vier Rängen hohe Einigkeit herrsch­te. Diese wur­den ein­stim­mig be­schlossen und umgesetzt.

auch für indi­vi­du­el­le Entscheidungen

Wenn es um per­sön­li­che, individu­elle Entscheidungen geht, wer­de ich als Entscheidungs-Mentor oft ge­fragt, was das mit Gruppenintelli­genz zu tun habe. Haben Sie viel­leicht gera­de eine Frage, zu der Sie eine Entscheidung benö­ti­gen – und die mög­li­chen Optionen?

Nehmen Sie sich einen Moment, und lau­schen Sie auf die unter­schiedlichen Stimmen in Ihnen, die zu den jewei­li­gen Möglichkeiten ei­ne Meinung haben.

Da wol­len ver­schie­de­ne inne­re Anteile mit­ent­schei­den: Im ein­fachsten Fall flüs­tern Engelchen und Teufelchen von der Schulter in jeweils ein Ohr. Auch Kopf, Herz und Bauch haben gele­gent­lich un­terschiedliche Meinungen.

Hörbar wer­den auch die unter­schiedlichen Rollen, Verpflichtun­gen und Funktionen. Ob man es in­neres Team oder inter­nes Dorf nennt: Häufig genug herrscht gro­ßer Tumult auf dem inne­ren Markt­platz der Meinungen.

Zwei Seelen woh­nen ach! in mei­ner Brust.

(aus Goethes Drama Faust I)

In Mentorings erle­be ich zudem häu­fig einen gro­ßen, unnö­ti­gen Druck, der auf anste­hen­den Ent­scheidungen las­tet. Dieser resul­tiert oft aus einer Schwarz-weiß-Denke. Damit brin­gen wir uns selbst in eine Entweder-oder-Situation. Bei lang­samerer Betrachtung jedoch tau­chen bestimmt wei­te­re Möglichkei­ten auf. Etwa das eine zusam­men mit dem ande­ren antei­lig zu kom­binieren. Oder einen wei­chen Über­gang von der einen zur ande­ren Op­tion zu gestal­ten. Etwa beim Wech­sel vom Job in die Selbstständigkeit.

Passivoption für sich nutzen

Eine ande­re Möglichkeit ist, nicht sofort zu ent­schei­den, son­dern noch ein paar Tage Bedenkzeit oder Zeit für Gespräche mit ande­ren ein­zuplanen – und so zusätz­li­che Per­spektiven zu nutzen.

Die Passivoption ist eine Varian­te, die eben­falls häu­fig ver­ges­sen wird: Ich las­se es so wei­ter­lau­fen, ent­schei­de jetzt nicht.

Auch und gera­de bei individuel­len Entscheidungen lau­tet die Devi­se: Erst ein­mal vie­le Ideen sam­meln – nach dem Motto Masse statt Klas­se. Meist wirkt dies schon entspan­nend. Diese Sammlung kann man dann erst ein­mal auf­schrei­ben, lie­gen las­sen und am nächs­ten Tag wei­ter­ma­chen. Der eine wird vie­le ein­zel­ne Karten beschrei­ben. Die ande­re hat sie ordent­lich numme­riert unter­ein­an­der auf ein Blatt no­tiert. Machen Sie es so, wie es zu Ihnen passt.

Stimmungsbild des inne­ren Teams

Nun fra­gen Sie sich bit­te: Welche inne­ren Anteile, wel­che Rollen sol­len mit­re­den und vor­han­de­nen Ide­en bewer­ten. Ein gän­gi­ges Modell sind Träumer – Denker – Handelnder, das Trickfilm-Pionier Walt Disney genutzt haben soll.

Fragen Sie sich, wel­che inne­ren Anteile oder Rollen betei­ligt oder betrof­fen sind. Zum Beispiel: Ge­schäftsführerIn, Mutter, SportlerIn, EhrenamtlerIn und, und, und.

Jeder Anteil bekommt für die Be­wertung jeder Option ein Kontin­gent, etwa eine Handvoll Punkte. Jetzt neh­men Sie nach­ein­an­der die Position eines jeden Anteils ein und bewer­ten aus die­ser Rolle her­aus je­de Option, Idee, Vorschlag nachein­ander – ein­zeln für sich genom­men, als wäre es jeweils die ein­zi­ge Möglichkeit.

Das Ergebnis ist ein Meinungs­bild ihres inne­ren Teams – ähn­lich wie oben in Tabelle 1. Es spie­gelt die Stimmung und/​oder Meinung in Ihnen selbst wider. Zugegeben: Die­se Methode funk­tio­niert zuver­läs­si­ger mit einem Coach. Doch mit­ten in der Nacht geht es auch solo, wenn Sie Stift und Papier neben dem Bett lie­gen haben.

Heureka und die plötz­li­chen Einsichten

Noch ein Tipp für ein­sa­me, indivi­duelle Entscheidungen. Setzen Sie sich und Ihren Denkapparat nicht zu sehr unter Druck. Je län­ger Sie nach Lösungen suchen, umso bes­ser. Doch bit­te nicht so lan­ge, bis eine Lösung aus­sichts­los erscheint. Zwei füh­ren­de Neurowissenschaft­ler, John Kounios und Mark Bee­man, haben belegt, wie wich­tig Ent­spannungsphasen sind. Kurz: Su­chen Sie nach Lösungen und Ideen, bis Ihnen der Kopf raucht. Machen Sie dann eine Pause und etwas ganz Anderes. In die­ser Phase hat Ihr Ge­hirn die Chance, plötz­li­che Einsich­ten zu ent­wi­ckeln. Der Lösungsfin­dungsprozess wird im Hintergrund unbe­wusst weiterlaufen.

Wie man mit vie­len Menschen gemein­sam entscheidet

Im nächs­ten Beitrag die­ser Serie geht es dar­um, gemein­sam in Un­ternehmen, gro­ßen Organisationen, Genossenschaften, Vereinen, Ver­bänden oder Teams zu Ergebnissen zu kom­men – und das schnell, si­cher und kon­flikt­frei. Der Prozess von der Aufgabe bis zur gemeinsa­men Lösung wir Schritt für Schritt erläutert.

Beitragsinformationen

Dieser Artikel erschien zuerst im Fachmagazin Etiketten-Labels, Ausgabe 6 – 2022, Seiten 54 – 55.

Alle Teile die­ses Beitrags

  1. Wer die Zukunft meis­tern, möchte …
  2. Gruppenintelligenz ist mehr …
  3. Gemeinsam schnell, sicher und nachhaltig …
Autor
Tom Müller
(Foto: Moritz Kaschel, Wuppertal;
Lokalität: Zur Goldenen Idee, New Work Lab, Düsseldorf)
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